Edgar Allan Poe – Der Meister des Grauens: Teil 3.1: Interpretationen zu „Das verräterische Herz“

Liest man die Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“ zum ersten Mal, so scheint alles darauf hin zu deuten, dass es sich um eine klassische Kriminalgeschichte handeln muss: ein Mord geschieht und wird schließlich durch ein Geständnis aufgedeckt.
Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es sich bei dem Mord durch den Erzählers an dem alten Mann nicht um das eigentliche Thema der Geschichte handelt. Vielmehr handelt es sich bei dem Mord um die Rahmenhandlung der Erzählung.

Zu Beginn der Kurzgeschichte versichert uns der Erzähler, dass er nicht verrückt sei. Kommt man jedoch dem Ende der Geschichte immer näher, so wird dem Leser klar, dass entweder er oder die Situation nicht normal sein kann. Von irrationaler Angst oder seinem schlechten Gewissen verfolgt hört er das, wie er glaubt, immer noch schlagende Herz des Toten.
Fraglich ist, in welcher Situation sich der Erzähler zu dem Zeitpunkt befindet, in der er dem Leser die Geschichte erzählt. Möglicherweise befindet er sich bereits in einem Zuchthaus oder in einer psychiatrischen Heilanstalt.

Dem Titel der Geschichte entsprechend besitzt das Herz eine besondere Stellung. Ein schlagendes Herz steht symbolisch für das Leben. Innerhalb der Geschichte erfährt das pulsierende Herz jedoch eine groteske Umdeutung.
Der Erzähler fühlt sich von dem Herz des noch lebenden alten Mannes negativ beeinflusst. In der Nacht des Mordes vernimmt er den angsterfüllten Herzschlag des Mannes, der ihn immer nervöser macht. Angetrieben von dem Herz verrichtet er die geplante Gewalttat.
Während des Besuchs der Polizisten verändert sich die Bedeutung des Herzens. Das Schlagen weckt die Angst in dem Protagonisten, dass der Alte noch am leben sein und die Polizisten ihn des versuchten Mordes überführen könnten. Die Symbolik des Herzens steht nun für das schlechte Gewissen des Mörders oder für die Fügung eines übernatürlichen Geschehens.

Sehr eindringlich erscheinen der Monolog des Protagonisten und dessen angeschlagene Psyche. Er berichtet dem Leser in aller Ruhe von der Planung und dem Ablauf des Mordes und vergewissert, dass er zwar nervös war, aber nicht wahnsinnig sei. Er wiederholt immer wieder, völlig verstandesbetont und wohl überlegt gehandelt zu haben. Durch die ständige Wiederholung vermittelt er dem Leser, genauer über den Geisteszustand des Protagonisten nachzudenken und sich die Frage zu stellen: Wenn er nicht verrückt ist, warum besteht er darauf, es immer wieder zu betonen?

Es wird nicht eindeutig geklärt, ob es sich bei dem Erzähler um einen psychisch stabilen Menschen handelt, dem ein übernatürliches Ereignis begegnet ist oder dessen Gewissen ihn zu einem Geständnis gedrängt hat, oder ob es sich um einen psychisch angeschlagenen, wenn nicht sogar gestörten, Menschen handelt, der sich selbst das dumpfe Klopfen des Herzens nur einbildet.
Je näher die Geschichte dem Ende entgegen geht, desto hektischer und affektierter scheint der Erzähler zu werden. Ebenfalls wird deutlich, dass seine Wahrnehmung gestört sein könnte. Dies zeigt sich, als er beginnt die echten oder eingebildeten Schläge des Herzens unter den Dielen zu hören. In der Hoffnung, dass die Polizeibeamten die Schläge nicht hören können und bald den Ort des Geschehens verlassen werden, wirft er seinen Stuhl um und beginnt wild zu gestikulieren. Erst, als das Geständnis unter dem angestauten Druck aus ihm heraus bricht, setzt die wörtliche Rede ein:

„,Schurken!‘ […] ,Verstellt euch nicht länger! Ich gestehe die Tat! Reißt die Dielen auf! Hier! Hier! Es ist das grauenhafte Klopfen seines Herzens!‘“.

Seine Affektivität, die gestörte Wahrnehmung und seine Denkweise weisen auf eine psychische Erkrankung, eine Schizophrenie, hin. Folglich ist es beinahe schon fraglich, ob die Handlung der Geschichte überhaupt so abgelaufen sein kann.
Schließlich bleibt es jedoch dem Leser selbst überlassen, für welche Perspektive er sich im Verlauf der Geschichte entscheidet: für die des verstandesbetonten Erzählers in einer fantastischen Geschichte oder für die des wahnsinnigen Erzähler innerhalb einer realistisch geprägten Handlung

In der Geschichte findet sich auch ein vermeintlicher biographischer Anhaltspunkt Edgar Allan Poes. Nach dem Tod seiner Mutter Elizabeth Poe wurde Edgar Poe von John Allan in seiner Familie aufgenommen. Das Verhältnis zwischen den beiden war zwiespältig: zum einen ermöglichte Allan dem jungen Poe eine gute schulische Bildung und unterstützte ihn mit finanziellen Mitteln, zum anderen war Allan jedoch nicht gewillt, Poe gänzlich in seine Familie durch eine Adoption aufzunehmen. Trotzdem nahm er dessen Name an.
Der endgültige Bruch beider Männer erfolgte, nachdem Allan seine zweite Frau, Louisa Patterson, geheiratet hatte. Dies war für Poe besonders schwer, da Allans erste Frau, Frances Allan, die Aufnahme Poes in ihre Familie initiiert hatte und ihm somit ein Leben in einem Heim und in Armut ersparte. Frances Allan übernahm nach dem Tod der Leiblichen Mutter die Rolle der Ziehmutter für Poe. Ihr Ersetzen durch eine neue Heirat John Allans traf den einundzwanzig Jahre jungen Poe schwer.
Das schwierige und nicht genau zu definierende Verhältnis zwischen Poe und Allan lässt sich auf die nicht eindeutig geklärte Beziehung des Protagonisten und des alten Mannes projizieren. In welcher Verbindung der Protagonist und der alte Mann stehen, wird nicht deutlich. Jedoch könnte der alte Mann eine väterliche Rolle für den jüngeren Erzähler einnehmen, da immer wieder betont wird, wie groß die Zuneigung des Hauptcharakters zu dem Mann ist. Nur das bläuliche Auge überschattet diese Zuneigung. Auch diese Beziehung ist von einer Zwiespältigkeit geprägt.

„Das verräterische Herz“ baut eine starke Spannung auf. Dies geschieht über die Verwendung der Suspense, der englischen Bezeichnung von Spannung. Der Spannungsbogen, der innerhalb der Geschichte aufgebaut wird, endet nicht mit der Tötung des alten Mannes. Nach der Erleichterung des erfolgreichen Mordes durch den Erzähler folgt ein erneuter Spannungsaufbau durch das Erscheinen der Polizeibeamten. Der Leser ist gespannt, ob und wann der Mord erkannt und aufgeklärt wird. Durch das möglicherweise imaginäre drohende Donnern des Herzens und durch die immer mehr hysterisch werdende Art des Protagonisten wird die Spannung bis zum letzten Moment gewahrt.

 

Bild: Harry Clarke, ca 1919
veröffentlicht in: Edgar Allan Poe’s Tales of Mystery and Imagination, 1919.

About Poes Rabe

Was schreibt denn da als Redakteurin für Dark News über Literatur, elektronische Musik und Konzerte? Es handelt sich dabei um Poes Rabe, der, anders als erwartet, weiblich, hellhäutig und mit rotem Hauptgefieder gekrönt ist. Namentlich ist dieses Exemplar als Saskia Schäfer bekannt. Das 1990 geborene Rabentier ist Studentin an der Philipps-Universität in Marburg und besucht ebenfalls die Deutsche POP Akademie in Frankfurt am Main.

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