Festivals: eine Quintessenz

Stell dir vor es ist (beliebiges Festival einfügen) und keiner geht hin! Eine Thematik in welche die dieswöchige Kolumne Licht zu werfen versucht.

Bleiben wir realistisch: Wenn es nur um die Musik ginge – so drängt sich mir jedes Mal, wenn ich ein Festival besuche, der Eindruck auf – würden es vermutlich tatsächlich wenige sein. Vielleicht hat sich auch nur meine Sicht auf die Festivals geändert. Habe ich mich früher ein ganzes Jahr auf die Festivalsaison gefreut, Luftsprünge gemacht wenn neue Bands bestätigt wurden und mit einem Grinsen wie ein kleines Kind auf Dope ins Auge gefasst, was ich wohl dieses Mal anstellen würde, hat sich bei mir mittlerweile eine ziemliche Ernüchterung breit gemacht. Zum Beispiel darüber, dass die Tendenz vorherrscht, immer größer zu werden und immer mehr Künstler in derselben Zeit durch zu boxen. Da bleibt keine Zeit mehr für die üblichen Festivaldisziplinen: Saufen, Drogen nehmen, Saufen, in der Sonne braten, Saufen, in Ruhe Gigs schauen, Saufen, Sex mit wildfremden Betrunkenen, Saufen, schmutzige Witze machen, Saufen, dich auf dem Campground aufzuführen wie die Axt im Walde und ehm Saufen. Gut, bei der schwarzen Szene kommen Schaulaufen und Knipsen noch dazu.

Dass es mich nicht kratzt, welche Band da grade um 11 Uhr morgens auf einer der vielen Bühnen verheizt wird ist absehbar wenn mein gestriger Tag bis zu diesem Moment andauert und ich in den Zelten (oder Genitalien?) anderer Leute feststecke, ohne einen Plan was ich noch anstellen soll, erklärt sich von selbst. Bands mit mehr Alkohol als Blut in den Adern spielen viel zu kurz um etwas anderes als ein Best Of-Set zu spielen, manche davon motivieren dich zum Mitmachen, andere gehen grandios an der Aufgabe oder an Tontechnikern zu Grunde, die jedes Mal aufs Neue versuchen, einen Open Air-Sound auszubügeln.

Vielleicht ist – gerade weil die Billings der großen Festivals sich in vielen Teilen alle zwei Jahre wiederholen und die Headliner auch nicht jünger werden – der Gedanke bei dem einen oder anderen Betreiber angekommen, dass man neue und aufregende Bands heranziehen muss, die nicht nach Schema F vorgehen. Doch der Lohn für den Aufwand, Musik als Wettbewerb zu betreiben ist bei den Nachzuchtprogrammen zumeist, dass der Gewinner, eine Band die sich auf dem Festival selbst durch mehr K. O.-Runden gekämpft hat als sie zusammen Jahre alt ist oder in anderen Fällen von einer Jury und Publikumsstimmen ausgewählt wurden, bevor sie spielen darf, den besagten Slot um 11 Uhr morgens bekommt, den eben keiner haben will. Seltsamerweise findet sich zu jeder Band immer eine Vielzahl von Zuschauern im Publikum:

  1. Der Fan. Diese Spezies ist in ihrer Intensität sehr variabel von „Ich hab mal einen Song auf Youtube von denen gehört und mir direkt die Platte, das T-Shirt und den signierten Hund zum Album gekauft“ bis hin zu „Ich kenn‘ die persönlich, reise denen hinterher und kenne jeden Song auf jedem Album von ihnen auswendig“. Willst du entspannt den Gig schauen und/oder Bier abzwacken und feiern, dann halte dich an diese Spezies.
  2. Der Wartende. Seine Haltung ist mit dem Satz auf den Punkt gebracht: „Ich stelle mich früh an, um bei meiner Band möglichst in der ersten Reihe zu stehen.“ Und das tut er auch. Auch wenn er sich vor der Bühne, auf der seine Lieblingsband spielen wird, durch einen ganzen Tag von Bands stehen muss, die er nicht mag oder nicht kennt.
  3. Die wandelnde Bierleiche. Erkennst du sie, dann halte Abstand von ihr: Entweder ist dieser Typ eine Gefahr für sich oder seine Umwelt. Er kann auch ohne Spaß Alkohol haben und das hatte er auch schon zur Genüge. Kann er sich noch auf den Beinen halten und zum Moshpit wackeln, ist er eine Gefahr für alle anderen und wenn er das nicht kann und es trotzdem versucht, sollte man den Notarzt schon präventiv rufen. Alternativ dazu gibt es ihn auch als Drogenleiche.
  4. Der „Was-spielen-die-nur-schon-wieder-scheiße-VIP“. Vornehmlich auf Festivals zu finden, auf denen es so etwas wie VIP-Areas gibt. Dieser Typ gesellt sich nicht in die Menge, schaut sich das Konzert, was da läuft, mit dem Arsch nicht an. Er rottet sich mit Gleichgesinnten zusammen um sich darüber auszukotzen, wie schlecht die Bands doch sind. Die eheste Entsprechung dieser Spezies ist der Nette Blockwart-Nachbar von nebenan. Willst du Spaß haben, dann füll ihn ab oder gib ihm Gegenfeuer. Oder ignorier‘ ihn!
  5. Der Szenegänger. Vorzugsweise auf Gothic-Festivals zu finden. Er ist entweder für eine obskure Band angereist, weil diese das Lebensgefühl „Seiner“ Szene so wunderbar verkörpert oder er zeigt für grade diesen Stil Präsenz – auch wenn keine Band dieses Genres im Billing vertreten ist. Meistens ist er oder sie so tadellos gekleidet und frisiert, das einem nichts anderes übrig bleibt, als den Fotoapparat zu zücken. Wenn du dich gerne über exotische Stile und „alte“ Musik unterhältst, wirst du bei dieser Sorte auf deine Kosten kommen.
  6. Der Camper. Die moderne Lautsprechertechnik macht es möglich, nicht mehr nur das Publikum vor der Bühne, sondern auch den gesamten Campground zu beschallen. Genau genommen ist der Camper der passive Mitspieler der Gigs. Seiner Erfahrung und speziellen Vorplanung folgend hat er eine Stelle für sein Lager ausgesucht, an der er jeden Gig auf der Hauptbühne genießen kann, ohne sich auch nur einen Millimeter aus seinem Campingstuhl zu bewegen. Meistens grillt er, vernichtet raue Mengen an geistigen Getränken und reißt dreckige Witze. Bei dieser Spezies braucht man meistens nur freundlich zu sein (oder ein Dekolleté sein Eigen nennen) um an Essen, geistige Getränke und Belustigung zu kommen. Will man ihn in Aktion erleben, so treibe man eine Rolle Gaffa-Tape, einen Haufen Leergut und ein paar dumme Ideen auf!
  7. Der Musikjournalist. Die ärmste Sau auf dem ganzen Festival. Dieser Typ muss die meiste Zeit nüchtern bleiben und arbeiten, wenn der Rest der Welt den ultimativen Urlaub ausruft. Diese Spezies muss sich am Ende AN ETWAS ERINNERN KÖNNEN, UM DARÜBER ZU BERICHTEN! Für den Rest der Menschheit gilt das Motto von Las Vegas: Was dort passiert bleibt auch dort. Um diese armen Menschen, die von ihrem Beruf oder Hobby meistens nicht einmal leben können, zu unterstützen, empfehle ich allen Geneigten, Geld an die „Spectre – Schickt mehr Geld und ich schicke mehr Krempel“-Stiftung zu überweisen. Ja, ich meine auch dich! Nein, nicht dich da drüben! Den mit der Rolex meine ich!

Also hinein ins bunte Getümmel! Dass dieses Vergnügen Geld kostet, sollte dir bewusst sein. Kenner sparen ein ganzes Jahr, um sich binnen der Spanne weniger Tage an Essen, Alkohol, Merchandise, noch mehr Essen, Alkohol, Eintritt für Toiletten und Duschen, Kleidung, CDs und Dienstleistungen zu ruinieren. Festivals sind komprimiertes Leben und so tu‘ das wonach dir der Sinn steht: Wenn du müde bist, dann klopp dir einen Kaffee rein, oder geh dir eine Band ansehen die dich wach macht und feiere ein bisschen. Hast du Hunger? Irgendwo findest du immer etwas zu Essen. Brauchst du Alkohol? Sieh dich um! Brauchst du einen Partner? Jungs: Seht euch um und seid nett wenn ihr was findet was euch gefällt. Mädels: Titten raus! Hilft auch bei der Beschaffung von allem anderen, was ihr so braucht. Solltet ihr jemanden für die schönen Dinge des Lebens in der Horizontalen finden: Zwei Mal hinsehen, die Promillebrille schönt manchmal gewaltig und das, von dem was die Scorpions in Blackout singen, brauchst du nicht unbedingt morgens früh. Kondome retten Leben und ein Fluchtweg für den Fall, dass dir die erste Regel egal war, erleichtert es deutlich, gewisse Erlebnisse einfach zu vergessen!

Den Tag danach möchte ich bildlich ausmalen:

Der Morgen graut, vor unserem inneren Ohr spielen (wahlweise) Morgenstimmung von Edward Grieg oder das Intro zu Ayreons „The New Migrator“, der Nebel erhebt sich im Sonnenlicht über Wiesen, die sonst nicht von Tausenden schwer gebeutelten Menschen frequentiert werden. Ein einsamer Betrunkener wankt in Richtung Gebüsch zwecks Erleichterung. Einzelne Gestalten sind mit dem Bier und der Zigarette in der Hand auf ihren Campingstühlen eingeschlafen. Grills dampfen sich grade zu Tode nach der kalten Nacht, man erwacht. Vielleicht im Zelt, im Schlafsack, vielleicht mit Gesellschaft. Vielleicht mit einer, die wir wenig später durch die erneute Zufuhr geistiger Getränke daraus hinfort spülen müssen. Manche erwachen im Campingstuhl. Hatten sie das Glück, als Letzte dort einzuschlafen, bleiben sie unbehelligt. Einige, die dieses Glück nicht ihr Eigen nennen können, wurden dekoriert, angemalt oder mit Klebeband und Leergut in moderne Kunstwerke verwandelt.

Der Erwachende wird augenblicklich vor die Wahl gestellt: Essen, Trinken, Schlafen, Sitzen, Erbrechen. Alles ist gleich wahrscheinlich. Du hast die freie Wahl, du bist auf dem Festival. Ist unser Erwachender klug, so hat er zuvor seine Rückreise so geregelt, dass er nicht selbst fahren muss und seinen Rausch in Ruhe ausschlafen kann. Also wird gefrühstückt, sich in Gruppen zusammengerottet und mit dem Abbau der Lagerstatt begonnen, während sich dieses Bild immer mehr und immer schneller im Umkreis bietet. Gestalten die sich zu „Sauber, Alkoholfrei, Wach und Kerngesund“ genauso verhalten wie Maulwurf zu Höhenflug, erheben sich aus ihren Zelten, verpacken sie fachmännisch und lassen, was auch immer kaputt genug war um mitgenommen zu werden, aber die mehrtägige Orgie von roher Kraft und reinem Irrsinn nicht überlebt hat, auf dem Campingplatz zurück. Ihm fällt später noch eine Bedeutung zu. In engen Konvois auf verstaubten oder vermatschten Pfaden, die normalerweise nur von Treckern benutzt werden schleichen sich die ersten Teilnehmer vom Campingplatz in Richtung Autobahn gen Heimat.

Da sich die großen Festivals immer mit dem Ferienanfang oder -Ende oder einem Feiertag in irgendeinem Bundesland überschneiden kann man davon ausgehen, dass so schnell kein Durchkommen sein wird und viel Zeit während dieses Trecks vergehen wird. Also gilt: langsam machen! Auch wenn die Leute die Zelte abbrechen, wirst du an diesem Tage frühestens abends erst irgendwo ankommen. Die klugen Leute haben sich in der letzten Nacht nach dem letzten Gig schon verdünnisiert. Also bleibt mehr Zeit um das ganze Projekt gegenzufinanzieren, indem man Leergut sammelt oder sich den Rausch der letzten Nacht auszuschwitzen, indem man den Sperrmüll den andere Leute zurückgelassen haben fachmännisch und mit viel Gewalt weiter zerlegt, ehe man seufzend das letzte Bier köpft um wieder in sein altes Leben mit Schule, Uni oder Schreibtischjob, Familie und allen Fesseln der modernen Zeit zurückkehrt. Auf der Rückfahrt bleibt genug Zeit um damit anzufangen, sich auf das nächste Jahr zu freuen. Und auf den Moment, in dem man wieder von Doctor Jekyll zu Mr. Hyde wird. Einfach mal Urlaub unter normalen Menschen…

In diesem Sinne, trotz aller Verbitterung und Kritikpunkte: bis zur nächsten Saison!

About Spectre

Please allow me to introduce myself, I'm a Man of wealth and taste. Oder so ähnlich. Schreiberling reporterlicher- und kreativerweis, Saitenquäler, Vollzeitdadaist, Berufszyniker und Liebhaber der schönen und feingeistigen Dinge. Oder einfach Spectre.

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