Kolumne: 21st Century Schizoid Men – Schneeblind

Wann hast du das letzte Mal die Übersicht gehabt? Über Politik, über „deine“ Bands, über die Dinge die in deinem Leben wichtig sind? Und wie schwierig ist es geworden seinen Verstand und die geistige Gesundheit zu erhalten? Diese Kolumne hilft dir dabei!

Wann haben wir noch Momente in denen nichts auf uns einspringt? Wir erfahren, was in der Welt passiert aus Radio, Zeitung, Fernsehen, Internet, vom Hörensagen und durch die Post, aber was davon betrifft uns wirklich? Ich bin durch das tägliche Fahren mit der U-Bahn gezwungen, mir täglich auf Infobildschirmen, die die Wartezeit für die Passagiere verkürzen oder erträglich machen sollen, einen Haufen Informationen aufzunehmen, die mir eigentlich in meinem Leben vierspurig am Allerwertesten vorbei gehen. Über Prominente, deren Name mir nichts sagt, über Veranstaltungen, die ich nicht besuche, über das „Immernoch oder Mal wieder“ Krisenthema aus der Weltpolitik, ein Quiz über auflockernde Nichtigkeiten (meistens Fußball), Sportnachrichten (eine Tabelle, auch meistens Fußball) und dazwischen Werbung. Dass das alles nur aufs Minimalistische eingedampft worden ist, um ein in jeder Hinsicht breites Publikum anzusprechen, wurmt mich. Wir wissen nicht warum (oder warum nicht?) jemand Prominent genannt wird, was wirklich die Sache in der akuten Krise ist, welche Veranstaltungen denn heute wirklich stattfinden (insbesondere bei denen die in keiner Zeitung stehen wird es wirklich interessant), welcher Sport vielleicht außerhalb von Fußball noch existiert, warum man uns Stichtage um die Ohren wirft, uns aber nicht die historische Relevanz erklärt und warum zum Teufel ich mir all das ansehen muss, was mich nicht nur nicht anspricht, sondern auch sich seinen Weg in meinen Kopf bahnt.

Aber dieses Beispiel ist nur eines von vielen. In jedem Geschäft und an jeder Ecke wird man akustisch oder visuell bombardiert. Du willst eine bestimmte Sache einkaufen und gehst in ein Geschäft, in dem Radio oder eine eigens zusammengestellte Playlist aus unsichtbaren Lautsprechern auf dich zukommen. Dass vor der Tür ein exzellenter Straßenmusiker mit exotischen Instrumenten aus einem anderen Teil der Welt steht und auf taube Ohren stößt, ist schnell vergessen, wenn man in das nächste Geschäft springt oder weiter geht. Oder sich akustisch in seine kleine Komfortzone zurückzieht. Durch Mp3s und Player hörst du dann auch noch nicht einmal ganze Alben, sondern Playlist. Es ist nur ein Symptom unserer Überflussgesellschaft, dass Musik immer mehr konsumiert und immer weniger verstanden wird, dass man dem, was vielleicht ein zeitlos schönes Kunstwerk ist, keinen Raum zum Atmen lässt. Gibt es einen dritten Weg zwischen Autistischer Abschottung und Abstumpfung?

Ich habe das Glück über etwas zu verfügen, was sich „geistige Hygiene“ nennt, und die meiste Zeit sehe ich nicht hin. Geistige Hygiene bedeutet bei jeder Information, die du bekommst zu überlegen, was das ist und ob das relevant für mein eigenes Leben ist und dementsprechend den Zufluss an Information zu regeln. Nur nehmen wir zu viel davon unbewusst und im Vorbeigehen auf. Nehmen wir jede Information, jeden Song, jedes Bild, jeden Artikel als Schneeflocke sehen wir so lange Schnee, bis wir die wichtigen Informationen in der Masse nicht mehr sehen. Wir sind schneeblind geworden.

Sieh mal auf dein Smartphone. Mit diesem Instrument kannst du mittlerweile jede beliebige Form von Kultur in dein Leben holen: Qualitätsjournalismus, Kunst, Literatur und Musik, Philosophie und feine Gedanken. Und du verwendest es um Angry Birds zu spielen, stimmts? Schlimmer noch, du nutzt es für Nichtigkeiten: Um ein Foto von deinem Essen, deiner Katze, deinem Gesicht oder deinem Partner auf Facebook zu posten, um so etwas wie digitale Aufmerksamkeit zu schnorren. DU nutzt geistige Ressourcen, einen Scheißaufwand an Energie und vor allem WASSER, um dir einen Eimer Wasser über den Kopf zu schütten, um dich als Wohltäter gegen eine Krankheit zu gerieren, an der weniger Menschen sterben als die, die Sterben, weil du diesen Eimer Wasser verschwendest. Gut, das ist polemisch. Nur weil du hier in einem Land mit exzellenter Wasserversorgung und ansehnlichen Niederschlagsraten etwas Wasser verschüttest, passiert nichts weiter als dass eine Person und der Boden nass werden. Und das muss gefilmt werden. Kollektiv. So lange bis es unser Sichtfeld füllt, bis alles was wir sehen und hören Schnee ist.

 

Und jetzt die Lösungen dafür:

  1. Wann auch immer du auf welchem Wege, ob es Fernsehen ist , Radio, Zeitungen oder Zeitschriften, Hintergrundmusik, Wurst mit Gesicht et cetera eine Information präsentiert bekommst, bei der du bei genauerem Betrachten erkennst, dass du das eigentlich nicht in deinem Kopf und Bewusstsein haben willst, dann stell die Quelle ab! Und überleg dir, was da grade passiert.
  2. Wirf deinen Fernseher aus dem Fenster! Es bereichert dein Leben und sorgt für interessante Gesprächsthemen in der Nachbarschaft sowie ein unvergessliches Highlight auf der nächsten Fete.
  3. Nimm dir Momente der Stille und hör dir selbst beim Denken zu. Punkt.
  4. Es gibt Dinge die musst du nicht mit der Welt teilen. Und ebenso gibt es Momente in denen du nicht erreichbar sein solltest.
  5. Sich Wasser über den Kopf schütten hieß früher Dusche und der gute Zweck war zu riechen. Also nenn es so! Oder leg dir vorher einen Lappen übers Gesicht und nenn es Waterboarding. Solltest du es trotzdem tun und meinen du müsstest dich dabei filmen, dann teil es nur mit Leuten die es Interessiert!
  6. Bevor du etwas bei Fuckbook, Wer Fickt wen, Google Minus, Studi irgendwas oder sonstwo postest und mit anderen Teilst stell dir vor: du rufst bei jeder Person in deiner Liste die das nachher lesen muss EINZELN an und sagst genau die Worte die du da postest. Kannst du dir selbst zuhören? Falls nicht, dann einfach mal nichts schreiben!
  7. Jede Information ist nur drei Klicks entfernt also solltest du bevor du dich über etwas aufregst VERNÜNFTIG nachforschen und deine Meinung begründen können. Und nein: Reddit, 9Gag, Bild.de, Stupidedia und der Postillion sind keine legitimen Quellen.
  8. Sieh mal zu was so in deiner Stadt, vielleicht sogar in deinem Viertel abgeht und geh einfach mal irgendwo hin. Kleine Konzerte kann man meistens umsonst sehen, und bei allem was Fünf Euro Eintritt kostet kannst du in der Regel nichts verlieren. Selbst wenn es scheiße ist, du hast etwas Neues erlebt und dich selbst gespürt dabei. Und ein Hassobjekt zu haben ist das immer wert. Alternativ dazu kann man auch positiv überrascht werden! Wenigstens kommst du wieder in Kontakt mit der Realität.

Vielen Dank für ihren Verstand

 

Bildquelle (Titelbild)

About Spectre

Please allow me to introduce myself, I'm a Man of wealth and taste. Oder so ähnlich. Schreiberling reporterlicher- und kreativerweis, Saitenquäler, Vollzeitdadaist, Berufszyniker und Liebhaber der schönen und feingeistigen Dinge. Oder einfach Spectre.

Check Also

Plattencover

Die 13 schönsten Gothic Balladen

Friedi muss sich wieder einen überzeugenden Einleitungskram ausdenken, denn Damien ist da recht schlecht drin. Herzschmerz, …