Füssli - Nachtmahr. Gothic in der Kunst.

Kolumne: Gothic ist für mich…

In vielen Gothic-Portalen findet man immer wieder die Frage, was das Wort „Gothic“ für einen selbst bedeutet. Das ist sicherlich nicht leicht zu beantworten, vor allem da entsprechendes Schubladendenken hier vorprogrammiert ist. Es folgt ein kleiner historischer Bericht mit dem Augenmerk auf „was ist eigentlich Gothic?“. Eine Frage für die dieswöchige Kolumne. Gothic ist für mich…

…ein historisches Phänomen.
Der Begriff „Gothic“ kommt eigentlich aus der Geschichte – Gotisch war zum einen eine ostgermanische Sprachgruppe des Indogermanischen die um ca. 500 n. Chr. ausstarb. Die letzten Wurzeln finden sich aber noch bis um ca. 1800 n. Chr. auf der Krimhalbinsel wieder (Stichwort Krimgoten). Zum anderen handelt es sich bei der Gotik um einen mittelalterlichen Kunst- und Architekturstil, der von den frühen Kunsthistorikern wie Giorgio Vasari eher abschätzig bewertet wurde. Stilmerkmale sind unter anderem spitzzulaufende Fenster- und Torbögen oder das Kreuzrippengewölbe, welches wir heute noch bei einigen Kirchenbauten im Stil der Backsteingotik finden.

…ein Literaturstil und eine Kunstrichtung.
Antoine Wiertz: Two Young Girls or the Beautiful RosineSpäter, etwa im 19. Jahrhundert kommt die Literaturgattung der Gothic Novel (auch als Schauerroman bekannt) innerhalb der Epoche der Romantik mit ins Spiel. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehören Autoren wie Bram Stoker (Dracula), Mary Shelley (Frankenstein), François-René de Chateaubriand (Atala) oder Lord Byron (Manfred). Kennzeichnend sind neben der Ästhetik des Erhabenen der Nihilismus, der Trotz, Weltschmerz und das ungebundene Subjekt. Die Gothic Novel war primär in England und Frankreich vertreten und ist Vorbild für die heutige Horrorliteratur. Gleichzeitig entsteht eine neue Kunstrichtung, die ähnliche Wirkungen erzielt wie die Gothic Novel – Künstler wie Johann Heinrich Füssli (Der Nachtmahr, 1802) oder Antoine Wiertz (Two Young Girls or The Beautiful Rosine, 1847) sorgen nun für den Einstieg in die Schwarze Romantik, und stellen somit erstmals das Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen in Kontrast.

…eine Szene und ein Lebensgefühl.
Seit den 1980er Jahren spricht man von Gothic als Szene. Primär handelt es sich um eine Jugendbewegung, die sich mit dem Tod und ihren Facetten auseinandersetzt – hier sind klar Vergleiche zum Stil der Gothic Novel und der Kunst der schwarzen Romantik zu ziehen, aber auch zur Musik. Szenegänger fallen durch ausgefallene Stylings, sei es durch toupiertes Haar oder krasse Schminke, in der Öffentlichkeit auf – die Gesellschaft schafft entsprechend Vorurteile und packt die „Gruftis“ in eine Schublade oder vielmehr eine Sargkammer. Gothic gilt nun auch als Lebensgefühl, und wird von Außenstehenden mit negativen Assoziationen konnotiert.

…eine Musikrichtung.
Selbstverständlich entstand dann relativ zeitnah auch eine Musik, die „nur“ für Anhänger der Gothic-Szene gemacht wurde. In den 80ern wurde allgemein noch zwischen Musik für Popper und für Punker differenziert. Die Gruftimukke spaltete sich dann mit Interpreten wie den Einstürzenden Neubauten, Siouxie and the Banshees, The Cure, Bauhaus oder Xmal Deutschland klar vom Punk ab und entwickelte seinen eigenen Musikstil. Diese Musikrichtung spaltete sich dann später noch in viele weitere Stile auf, die wir heute insgesamt unter dem Namen „Schwarze Szene“ kennen. Hierbei sind zum Beispiel anfangs Darkwave und Coldwave, später aber auch elektronischere Musik wie Industrial, EBM oder Dark Electro zu nennen. Man sieht schnell, dass die Musik der schwarzen Szene unglaublich breit gefächert ist.

Darkwave (The 80s) by Damien Rave on Mixcloud

…ein Kleidungsstil.
 Die Szene provoziert vorwiegend durch Kleidung und das allgemeine äußere Erscheinungsbild. Doch auch Nicht-Szenegänger kleiden sich dank EMP, H&M und X-tra-X (übrigens kürzlich von EMP aufgekauft) gerne mit Tüll, Nieten und Springerstiefeln. Dadurch, dass sich auch „Normalos“ der Kleidung, aber nicht den anderen Facetten der Szene, hingezogen fühlen, wird Gothic immer mehr zu einem Mode-Phänomen degradiert. Gleichzeitig definieren sich viele Goths heute überwiegend auch durch ihre Kleidung, oder habt ihr schonmal einen Mittelalterfan mit Cyberlocks gesehen? 🙂

…undefinierbar!
Gerade aufgrund der oben genannten Aspekte ist Gothic Alles und doch Nichts. Ein alter Bekannter hat mir vor vielen Jahren gesagt, dass Gothic für ihn die Akzeptanz des Todes sei, diese Worte haben mir letztendlich geholfen dessen Tod teilweise zu verarbeiten. Doch auch wenn ich diesen Satz für mich als richtig einschätze, fällt es mir schwer, mich als Gothic zu bezeichnen, alleine schon wegen des ewigen Schubladendenkens, welches mit der Gothic-Kultur seit Ewigkeiten einhergeht. Ich mag Gothic – ich mag die Kleidung, die Musik, das Lebensgefühl und auch die historischen Hintergründe, aber ein Gothic bin ich sicherlich keiner. „Ich bin ich“, so sollte jeder von uns denken, sich nicht zu dem verbiegen lassen, wie andere uns gerne haben wollen. Tut das, was ihr liebt, und nicht das, was ihr aufgrund eines Szenebewusstseins glaubt tun zu müssen.

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About Friedi von Murr

Friedi von Murr berichtet jeden 2. Sonntag Abend in ihrer Kolumne über das alltägliche Dasein des Gruftitums. Ansonsten studiert sie im Master Deutsche Literatur an der Philipps-Universität in Marburg.

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