Lacrimosa – Sehnsucht (Review und Kritik)

Lacrimosa - SehnsuchtLacrimosa war seit jeher ein Projekt, welches polarisierte: entweder man mochte die Musik oder man machte einen größeren Bogen um die Wahlschweizer Tilo Wolff und Anne Nurmi. Fest steht allerdings: seit jeher sind Lacrimosa ein Paradebeispiel für intelligente, deutschsprachige Texte. Gefühlsausbrüche und geschickt rhetorische Gesellschaftskritik standen bei Tilo Wolff schon immer nah beieinander. Doch noch nie war ein Album so persönlich wie „Sehnsucht“. In den letzten zwölf Jahren wandelte sich die Musik immer mehr zur orchestralen Rockmusik. Und nun, neunzehn Jahre nach der Veröffentlich der ersten Demo, ist es Zeit zurückzublicken: musikalisch und textlich…

Als 1991 das erste Album „Angst“ erschien, hätte sich wohl noch niemand träumen lassen, dass Lacrimosa schon ein paar Jahre später zu einer wahren Institution in der deutschen Gothic-Musik werden würde. Es hätte mit Sicherheit auch niemand gedacht, dass gerade durch die Musik von Lacrimosa viele Menschen ihren Weg zu eben diesem Genre finden würden. Lacrimosa gehören weltweit immer noch zu DEM Aushängeschild der deutschen Gothic-Szene, auch wenn man hierzulande meinen könnte, dass Lacrimosa nur noch eine Band von vielen ist. Allen Unkenrufen zum Trotz: schon bald steht das zwanzigjährige Jubiläum an. Und mit „Sehnsucht“ wurde jüngst ein Album veröffentlicht, welches die bisherige Bandgeschichte wunderbar wiedergibt. Und nicht nur das: es zeigt einen deutlichen Weg in die Zukunft.

 

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Tilo Wolff und Anne Nurmi

Es ist definitiv keine einfache Aufgabe eine Kritik zu diesem Album zu schreiben. Zu komplex sind die Songs, um sie in einfache Worte zu fassen. Zu groß wirkt das Gesamtwerk, um ein einfaches Fazit zu sprechen. Man könnte durchaus sagen: „Wo Lacrimosa drauf steht, ist auch Lacrimosa drin.“ Einzuwenden wäre dagegen nichts, doch dies würde zu kurz greifen. Warum? Die musikalische Entwicklung in den letzten vier Jahren (das letzte Album, „Lichtgestalt“, erschien 2005) kann als geradezu gravierend bezeichnet werden. So wurden sämtliche Einflüsse aus der Klassik bis auf ein Minimum heruntergeschraubt. Während in den letzten Alben vor allem orchestrale und epochale Klangteppiche das Gesamtbild ausmachten, hat man auf den neuen Album wieder die E-Gitarre für sich entdeckt. Songs wie „Mandira Nabula“, „Feuer“ und „I lost my star in Krasnodar“ zeigen die rockige Seite der Band auf beeindruckende Weise. Ach, was sag ich: diese Songs sind treibend, fesselnd und laden fast schon zum headbangen ein. Jahrelang wurde von den Fans mal wieder ein Song eines „Copycat“-Kalibers gefordert. Nun gibt es ganze drei Songs von der Sorte. „Die Sehnsucht in mir“, „Der tote Winkel“ und „Koma“ erinnern eher an die letzten Alben. Es sind in erster Linie gute Rocksongs mit der Unterstützung eines Orchesters. Dabei hat man es geschafft endlich eine gute Balance zu finden. In der Vergangenheit waren die Orchester immer sehr dominierend. Nicht so bei diesen Songs: Rock- und Klassikinstrumente sind absolut gleichberechtigt. Die Band und das Orchester passen auf solch geniale Weise zusammen, wie ich es nur selten gehört habe.

 

Kann sich jemand von Euch noch an die Wurzeln von Lacrimosa, die Neue Deutsche Todeskunst, erinnern? Mit zwei Songs, „Die Taube“ und „A.u.S.“, hat man sich wieder diesen Wurzeln angenähert – natürlich nicht ganz so minimalistisch wie damals. Aber die Kompositionen sowie die Texte tragen mehr als deutlich die Handschrift der eben genannten Stilrichtung. Sogar alte Elemente wie die Orgelklänge lassen sich heraushören. Als ich die zwei Songs zum ersten Mal gehört habe, bekam ich eine wohlige Gänsehaut, hat es mich doch an meine Anfangszeit vor 14 Jahren erinnert. Zusammenfassend lässt sich über die musikalische Seite folgendes sagen: Lacrimosa haben es geschafft, die lieb gewonnen Elemente der einzelnen Bandabschnitte auf gekonnte und extrem kreative Art miteinander zu vereinen. Und was dabei herauskam, klingt auf keinen Fall wie schon mal gehört. Ja, wenn man alles auseinander nimmt, dann erkennt man sicher die vertrauten Strukturen. Doch im Gesamtbild wurde etwas neues, etwas erfrischendes erschaffen. Tilo hat all den Ballast der letzten zwei, drei Alben abgeworfen. Das Klangbild wirkt schlanker, progressiver und einfacher – ohne die gewohnte Komplexität in den Kompositionen zu verlieren.

 

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Tilo Wolff

Tilo und Anne haben übrigens auch gesanglich um einiges zugelegt. Okay, dies haben sie schon in den letzten Jahren – aber auf diesem Album kommt es endlich mal so richtig zu Geltung. Tilo flüstert, wispert, schreit. Und die normale Gesangsstimme? Sie wirkt dunkler. Tilo schafft es endlich gekonnt zwischen tiefen und höheren Stimmlagen zu wechseln, ohne das es zu gekünstelt wirkt. Auch Anne hat in den letzten Jahren zugelegt. Davon abgesehen, dass sie schon in den 90ern nicht so schlecht gesungen hat, wie Kritiker gern behaupten, klingt ihre Stimme kraftvoller und voluminöser. Und trotzdem schafft sie es auf eine zerbrechliche Art zu singen, die bei dem geneigten Hörer eine Gänsehaut erzeugt. „A prayer for your heart“ ist definitiv eines der schönsten Songs in der Bandgeschichte. Nun, ich bin ja schon lange der Meinung, dass ein Soloalbum von Anne mehr als eine Bereicherung wäre. Die Beiden haben auf „Sehnsucht“ ihre bisher beste gesangliche Leistung abgeliefert. Kommen wir nun zu den Texten. Im Mittelpunkt steht, wie der Albumtitel schon erahnen lässt, die Sehnsucht in all ihren Facetten. Die Sehnsucht nach Liebe und nach Familie wird dabei genauso thematisiert wie die Sehnsucht nach Rache und der Flucht aus engen Schubladen, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Jeder Hörer sollte sich die Zeit nehmen und sich die Texte einmal in Ruhe durchlesen. Es lohnt sich wirklich. Es ist schon sehr lange her, dass ich in der Musik solch persönliche und tief greifende Texte gefunden habe. Auch bei Lacrimosa muss man viele Jahre zurückgehen um solch eine Intensität zu finden.

Schlussendlich bleibt zu sagen, dass es sich hier um ein ganz außergewöhnliches Album handelt. Es zeigt auf, wie ehrlich man in der Musik sein kann. Es führt vor Augen, wie befreiend es sein kann, seine Gefühle herauszulassen. Und das macht das Album auch so wichtig. In einer Zeit, in dem die Gothic-Musik oft nur von Klischees lebt und sich selbst rezitiert, wirkt „Sehnsucht“ wie ein wahrer Befreiungsschlag. Tilo hat es geschafft, die gängigen Klischees auf gekonnte Weise zu umschiffen. Die Kompositionen sind unverbraucht. Fans kaufen sich das Album sowieso. Es gibt übrigens zwei Versionen, die normale und die Special Edition. In der Special Edition sind einige Songs anders arrangiert und somit halten sich die Unterschiede dahingehend in Grenzen. Das Album sei aber auch all denen ans Herz gelegt, welche ihre vorgefertigte Meinung allzu gern und immer wieder äußern. Nehmt euch die Zeit! Es ist sicherlich kein einfaches Album und der Zugang kommt nach und nach. Doch dann wird auch Euch eine Magie überkommen, der man sich nur schwer entziehen kann.


Fazit:

Ich bin begeistert! Restlos begeistert! Ich bin überwältigt und es hat mich lange kein Album so tief berührt wie dieses. Dieses Album hat meine Liebe zu Lacrimosa wieder entfacht – mit der ersten Note. In meinem Herzen konnte ich ähnliches Herzschlagen vernehmen als vor vierzehn Jahren, wo ich das erste Mal mit Lacrimosa in Berührung gekommen bin. Es handelt sich um ein Album an das so schnell kein anderes herankommen wird. Von Vorne bis hinten herrscht Perfektion. Ansonsten habe ich ja immer irgendwas zu bemängeln und zu meckern, besonders bei den letzten Lacrimosa-Alben. Aber hier stimmt einfach alles. So muss Gothic-Musik heutzutage klingen: kreativ und erfrischend.


Trackliste:

1. Die Sehnsucht in mir
2. Mandira Nabula
3. A.u.S.
4. Feuer
5. A prayer for your heart
6. I lost my star in Krasnodar
7. Die Taube
8. Call me with the voice of love
9. Der tote Winkel
10. Koma

 

(10 / 10)
(10 / 10)

Anspieltipps:
A prayer for your heart
Die Taube
I lost my star in Krasnodar


Veröffentlichungsdatum:
8. Mai 2009


Lacrimosa-Homepage

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