Neunmalkluges zur Musik. Spielmann Michel beantwortet Fragen, die niemand gestellt hat

Heute:

Wie war das mit den Kastraten?

 

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In einem seiner Werke beschreibt der Fantasy-Kult-Autor Michael Moorcock die Musiksklaven, die von Kindheit an auf übernatürliche Gesangskunst trainiert werden und dann (nur unter Schmerzen) ihre Gesänge dem dekadenten Publikum vortragen.

Die geschichtliche Wahrheit der Barockzeit war davon gar nicht weit weg.

In diesem Beitrag möchte ich mich einerseits zur Historie äußern, andererseits soll dies auch eine Art Rezension werden zu einem der spannendsten Musikprojekte, das in den letzten Jahren veröffentlicht wurde.

Fangen wir vorne an (Das scheint für diese Kolumne eine Art geflügeltes Wort zu werden 🙂 ):

„Evviva il coltellino (Es lebe das Messerchen)!“ Etwas zynisch kommt der Jubelruf daher, mit dem die Kastraten in der Barockzeit lautstark gefeiert wurden. Wie immer bestimmten Angebot und Nachfrage den Markt. Ca. 200 Jahre lang waren die Kastraten aus der Aufführungspraxis nicht wegzudenken. Körperliche Ausbeutung der Frontfiguren des Musikbusiness gab es nicht nur in Zeiten Michael Jackson, Beyoncé, Girly-Gesangstruppen und Boygroups. Sendungen wie Voice-Kids oder DSDS tun ihr Übriges, um den Mob auf die falsche Fährte des Konkurrenzdenkens zu führen, anstatt Musik als das zu verstehen, was sie ist, eine hohe Kunst, die ihre besten Momente im gelungenen Miteinander findet, nicht in Wettbewerben nach KO-System. Und in Zeiten, in denen abstruseste Kunstprodukte die Bestsellerlisten erstürmen, kann die Gunst des Publikums ausschließlich als finanzieller, aber niemals als künstlerischer Faktor gelten. Versteht mich nicht falsch…… es ist vollkommen in Ordnung, wenn man mit Musik Geld verdient und auch reich wird. Ich gönne einem Dieter Bohlen jeden Cent, den er verdient hat, denn es ist das Ergebnis harter Arbeit und enormen Durchhaltevermögens (unabhängig davon, wie es einem nu gefällt.) Ob man will oder nicht…. Der Mann ist bedeutsam für die Popmusik. (jaja….schon klar…… ich kotz gleich mit Euch mit 🙂 )

Im Barock ging die Rechnung ebenfalls auf, wenn auch mit einem körperlichen Einsatz, den heutzutage aus gutem Grund niemand mehr auf sich nehmen würde 🙂 Die Gleichung bestand aus virtuos(est)er Gesangskunst, im typischen Pomp des Zeitgeistes präsentiert, aus knisternder Erotik, die sich maßgeblich auf das zur Ohnmacht neigende weibliche Publikum ausrichtete, und auf schräge Bühnenoutfits.

Getreu dem (sinngemäß zitierten)Wort des Religionszerstörers Paulus, das Weib habe gefälligst die Schnauze zu halten, geriet die Musikszene in Schwierigkeiten. Frauenrollen wurden von Männern besetzt, die in Kopfstimme sangen (Klänge, die wir von den Bee Gees, Michael Jackson, Curtis Mayfield, Marvin Gaye oder Jimmy Summerville kennen) oder halt von Kindern. Beides brachte nur wenig zufriedenstellende Ergebnisse sei es wegen der Gestalt oder der „oft unangenehmen Töne“. So wurde es in Rom ab ca. 1600 zur Regel, Sopran- und Alt-Stimmen von Kastraten besetzen zu lassen. Eine Praxis, die über mehrere Jahrhunderte beibehalten wurde. Mit einem Edikt des Papstes Clemens IX , das Frauen bei hohen Strafen verbietet, sich als Sängerin ausbilden zu lassen, wurde der Kastrat in seiner Funktion für die Musik unersetzbar.

So hieß es zumindest.

Schon wenige Jahre später wurde das Edikt seeeeeehr frei ausgelegt und auf einmal war es auch Frauen möglich eine glänzende Gesangskarriere zu starten.

Wozu dann noch die Kastraten?

Spätestens nach dem Eingriff war den Jungen ein Leben in „normalen“ familiären und gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht mehr möglich. Kinder kann man manipulieren und schon sehr früh einer Ausbildung zuführen, die hohe technische Gesangsqualität schon in jungen Jahren mit sich bringt.

Und die Rechnung ging auch auf. Ärmere Familien überließen sangesstarke Jungen den Headhuntern, die unermüdlich den Bedarf des Business zu erfüllen suchten.

Zugleich wurde eine Karriere in Staat, Armee oder Kirche (!!!!!!!!!!! jaja, genau die Kirche, der diese Entwicklung überhaupt zu verdanken war….) aus Gründen der Diskriminierung oder von Verboten verwehrt. „Die Italiener (maßgeblich des nepalesischen Hinterlandes) sind die einzigen, die sich in den Kopf setzten, die Musik auf Kosten ihrer Nachkommenschaft auszuüben.“

Allerdings bekamen nur die Begabtesten die umfangreiche Ausbildung, dir (Ba)Rockstars wie Farinelli oder Caffarelli hervorbrachten. Die anderen landeten in den Kirchenchören oder bei den fahrenden Sängern, wo sie sich neben dem Gesang auch noch der Befriedigung ältlicher Adelsdamen widmen durften (als „peccato nobile“ (edle Sünde) gesellschaftlich akzeptiert), denn der androgyne Reiz dieser Mitmenschen, die nicht mehr ganz Mann, aber auch nicht Frau und in ihrer Stimme so knabenhaft geblieben waren, ließ den Damen, die in dieser Zeit auf die altgriechische Mythologie und Ihre Geschichten von Ödipus, Narcissus und Hermaphroditus getunt waren, die Schenkel schon richtig beben.

Gut, dass sich dieses Brauchtum irgendwann mal erledigte, aber damals war es alltäglich und wurde von den Komponisten auch nicht hinterfragt, die in ihren Opern furiose Arien für die Kastraten schrieben.

Die Wirkung dieser Sänger soll im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend gewesen sein. Ohnmachtsanfälle, „sündige Erregung“, Männer, die auf die Travestie hereinfallen und sich verlieben in die Gestalten, die „….(in Ihrer Rolle als) Frauen gewöhnlich schöner sind, als die Frauen selbst“.Michael+Völkel+mit+Gitarre+(C)+kukart.de

Den cleversten der Kastraten gelang eine Karriere als Theaterchef, sie wurden reich, vielleicht sogar adelig und konnten sich mit dem Geld die verkorkste Sinnlichkeit versüßen, doch auch damals galt: es kann nicht jeder ein Superstar werden.

Ungeachtet der umgebenden Unmenschlichkeit, muss jedoch eines zugegeben werden. Die gesanglichen Qualitäten der Kastraten blieben seither unerreicht. Die bekannte Operndiva Cecilia Bartoli hat sich geäußert, dass die riesigen Intervallsprünge, die mit langen Atem unendlich ausgehaltenen Arpeggien und Koloraturen, die (trotz allem vorhandene) maskuline Kraft in Atem und Körperstütze in ihrer Kombination Möglichkeiten mit sich brachten, die für sie als Sängerin (obwohl gefeiert und umjubelt und unumstritten eine der besten) nicht zu toppen sei. (Ich persönlich finde, dass sie selbst nicht zu toppen ist :-))

Sie muss es wissen, hat sie doch mit ihrem Album „Sacrificium“ ein Werk geschaffen, das sich ausschließlich der Musik der Kastraten widmet. Es gibt eine DVD und auch eine CD mit einem sehr ausführlichen Booklet, dem auch alle Zitate in vorliegendem Beitrag entnommen sind.

Was Cecilia Bartoli da leistet ist einzigartig. Näher kann man dem Klangbild der damaligen Musik wohl nicht kommen und auch ich habe mich dabei erwischt, wie ich mit Gänsehaut, wohligen Schauern blankem Erstaunen und heruntergeklappter Kinnlade reagierte auf das GROSSARTIGSTE, was ich im Bereich der klassischen Musik zu hören die Freude hatte. (Ich weiß selbst, dass wir uns hier in einem News-Magazin für schwarze Musik befinden, doch habe ich gerade Euch, geneigte Musikfreunde, als Interessierte zu schätzen gelernt, die einen Blick über den Tellerrand nicht scheuen und sich gerne auch mal positiv überraschen lassen:-)).

Bartoli singt Arien die in ihrem barockem Pomp einfach geil sind. Von den Komponisten habe ich nie zuvor gehört (Porpora, Caldara, Leo………) und von den Opern auch nicht (Inhaltlich ist es meist griechisch-mythologischer Kitsch) und die meisten Aufnahmen sind absolute Welt-Uraufführungen. Wer ungeübt im Hören von Opern und/oder Barockmusik ist, sollte den eigenen Ohren eine gewisse Eingewöhnungszeit gönnen. Gute Musik erschließt sich nicht immer gleich beim ersten Hören. 2-3 Versuche sollte man schon vornehmen, bevor man sich ein Urteil bildet.

Angenehm ist es auch zu sehen, dass sich Bartoli ihres Spagats zwischen männlich und weiblich durchaus bewusst ist. Auf CD und DVD präsentiert sie sehr stark ihre männliche Seite. Maskuline Kleidung und Bewegungen, die CD-Coverfotos zeigen männliche Marmorstatuen, denen Herr Photoshop das Gesicht der Sängerin aufgesetzt hat.

Genug der Lobhudelei…..

Hier ist was zum Reinhören:

Arie „Come nave in mezzo all´onde“ von Nicola Porpora (ist etwas schneller als auf der CD. Geht ab ungefähr 1:30 los…. Hammer!!!!)

DVD-Promoclip http://www.klassikakzente.de/cecilia-bartoli/videos/detail/video:226263/sacrificium-dvd

Promoclip von Decca:

Hier der Movie-Trailer zum Film „Farinelli“ (die Stimme ist nicht echt, sie wurde am Computer gemischt aus einer Sopranistin und einem Kontratenor):

https://www.youtube.com/watch?v=gFliIl-vtms

Und hier noch was amtlich Männliches vom preisgekrönten Kontratenor Phillippe Jaroussky: https://www.youtube.com/watch?v=9zF-8JGxvR4

 

 

 

 

 

 

 

 

 

About Spielmann Michel

Seit tausenden von Jahren als zeitreisender musikus auf der Erdenscheibe unterwegs zu spielen Musik jeglicher Art, sei es Walter von der Vogelweide, Metallica, Pink Floyd, Zappa Django Reinhard oder musik aus eigener Feder :-) :-)

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