Manchmal gibt es sie, die absoluten Ausnahmetitel im Videospielsektor. Werke, welche die Branche noch nachhaltig maßgeblich beeinflusst haben und die jeder, der sich ernsthaft mit der Materie beschäftigt, in seinem Regal stehen haben sollte. Das Action-Adventure Shenmue ist ein solches Spiel. Das Magnum Opus des renommierten Spieledesigners Yu Suzuki, vormals AM2-Präsident (der sich u.a. verantwortlich zeigt für beliebte Arcade-Serien wie Outrun, After Burner oder die Virtua Fighter-Beat ´em´ Up Reihe), verkörpert ohne jeden Zweifel ein Meilenstein der Videospielhistorie. Und mit dem mittlerweile recht betagten Shenmue 2, wird das Epos in den engen Gassen Hong Kongs narrativ vorläufig auf die Spitze getrieben.
Man erinnere sich zurück an die Geschehnisse aus Teil 1: Iwao Hazuki, Vater des Protagonisten Ryo, wird in einem Martial Arts-Zweikampf von dem mysteriösen Lan Di getötet, der mit einem geheimnisvollen Spiegel verschwindet. Ryo nimmt in bester Amateur Detective-Manier die Fährte auf, um den undurchschaubaren Mörder zu finden. Auf Spurensuche u.a in seiner Heimatstadt Yokosuka, und den umliegenden Ortschaften verliert sich die Spur schließlich in Japan, und führt geradewegs ins ferne Hong Kong. Hier knüpft Shenmue 2 nahtlos an die Story vom Erstling an. Wir befinden uns im Winter, genauer schreiben wir den 23. Februar 1987, als Ryo in dem belebten Hong Kong eintrifft. Bis zum Frühjahr selbigen Jahres hat Ryo nun Zeit um dem rätselhaften Mord an seinem Vater und Lan Di auf die Schliche zu kommen. Wer den ersten Teil nicht gespielt hat, der hat mit dem „Digest Movie“ die Möglichkeit, sich die vorangegangene Geschichte anhand der wichtigsten Szenen aus dem Erstling anzuschauen. Somit ist der Besitz des ersten Teils auch keine Notwendigkeit, da das Rache-Epos somit auch für Leute nachvollziehbar ist, welche den Vorgänger nicht gespielt haben.
Für alle anderen bietet das Spiel aber noch ein nettes Gimmick: All jene, die noch das Savegame des ersten Teils auf der VMU haben, können auf ihre bereits bestehenden Daten zugreifen. Das heißt im Klartext: Die begehrten Sammelobjekte, die Move Bibliothek sowie Geld bleiben dem Spieler weiterhin erhalten. Aber auch ohne Spielstand gibt es zu Beginn ein wenig Taschengeld und ein paar simple Tricks aus der Martial Arts-Mottenkiste. Völlig hilflos ist der Spieler also nicht, wenn er die ersten Schritte durch das Hong Kong der späten 80er Jahre tut.
Oder doch? Gewissermaßen ja, denn waren im ersten Teil noch Unterschlupf, ein tägliches Taschengeld und der heimische Freundeskreis gewährleistet, ist Ryo nun völlig auf sich allein gestellt. Und tatsächlich erlebt man als Spieler neben der Neugier und Euphorie ob der lebendigen Spielwelt auch ein eigentümliches Gefühl der Fremde.
Es gehört mitunter zum Konzept – Hong Kong mit all seinen kleinen Läden, den geschäftigen Bewohnern, und den vielen kleinen, verzweigten Gassen ist so angelegt, dass einem dieses Gefühl suggeriert wird. So muss Ryo sich zum Beispiel eine entsprechende Unterkunft für die Nacht suchen, sich mit Jobs über Wasser halten und nebenbei noch die eigenen Ermittlungen vorantreiben. Dass man dabei natürlich auch noch auf allerhand skurille Gestalten trifft, versteht sich dabei fast von selbst. Einige von ihnen sind Ryo wohlgesonnen, andere hingegen wollen ihm ans Leder. Fronten ändern sich und Ryo muss lernen, wem er vertrauen kann und wem er lieber misstrauen sollte.
Apropos Jobs: In Shenmue 2 gibt es vielerlei Arten die Geldbörse zu füllen. Das ist auch bitter nötig, denn gleich nach Ankunft in Hong Kong wird Ryo seiner gesamten Habe beraubt. Um nicht völlig mittellos dazustehen, muss man wohl oder übel einen Teil des Inventars in den „Pawn Shops“ (also Pfandhäusern) verpfänden, oder aber einen Teilzeitjob annehmen. Das kann ebenso das Herumschleppen von Kisten im Containerhafen sein, als auch als die kurzfristige Übernahme von Glücksspielständen. Ist ein gewisses Maß an Startkapital zusammen, kann man sich wahlweise auch mit entsprechendem Glückspiel oder Straßenkampfturnieren über Wasser halten. Die Möglichkeiten sind vielfältig, ebenso wie die Gelegenheiten, es wieder auszugeben. Erwähnenswert ist hier vor allem die Möglichkeit an Arcade-Automaten die teilweise oben genannten Titel (After Burner, Out Run) in der Spielhallenversion zu spielen. Einmal in den weitläufigen Open World-Arealen gefunden, kann man diese auch direkt aus dem Menü heraus spielen (unter dem Menüpunkt „Shenmue Collection“). Aber auch sonst kann man mit Pachinko, Würfelspielen, Armdrücken und diversen Streetfight-Wettbewerben die Zeit verstreichen lassen. Abseits der frei erkundbaren Welt (frei erkundbar, zumindest bis zum spielinternen Juli 1987) geht die Story relativ straight voran, die ein oder andere überraschende Wende in der Dramaturgie gibt es natürlich trotzdem und soviel sei gesagt: Was erstmal klingt wie eine 08/15 Rachestory, hat durchaus den nötigen Tiefgang um den Spieler in seinen Bann zu ziehen. Natürlich ist aber auch eine Affinität für den ostasiatischen Raum vonnöten, um gänzlich ins Spielerlebnis einzutauchen.
Die Reise Ryos gestaltet sich im Übrigen weniger zäh, als noch in Teil 1. Das ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Bewohner der Welt deutlich freundlicher und auskunftsfreudiger sind. Der ein oder andere Mensch, welchen man nach dem Weg zu Stelle x fragt, geleitet einen sogar dorthin. Zum zweiten ist es nun möglich an jeder beliebigen Stelle abzuspeichern, ohne das Spiel zwangsweise abbrechen zu müssen. Feine Verbesserungen im Detail also, die den Spielfluss sanfter und gradliniger erscheinen lassen. Gleich hingegen geblieben ist, dass Ryo um Punkt 23:00 in die Heia muss. Da kennt das Spiel kein Pardon. Dafür kann man aber optional direkt zum Ort warpen, an dem man sich am Abend zuvor befunden hat. Das ist auf jeden Fall sinnvoll, denn die Laufwege von Ortschaft zu Ortschaft können teils ziemlich lang und ermüdend sein.
Der spielerische Kern ist nach wie vor die Detektivarbeit. Ryo hat nur wenige Anhaltspunkte zum Aufenthaltsort von Lan Di. Anhand dieser gilt es Leute zu befragen um wichtige Hinweise zu ergattern. Sowieso ist man zumeist auf der Suche nach wichtigen Personen, die wichtige Eckpfeiler in der Geschichte verkörpern. Die Ermittlungsarbeit ist einerseits enorm langwierig, ist aber ungemein spannend, entspannend und gut inszeniert. Essentielle Informationen werden automatisch in das Notizbuch eingetragen, welches Ryo immer bei sich trägt. Gewalt muss man zumindest in der ersten Phase des Spiels nur selten anwenden, aber auch in der actionreichen zweiten Phase des Spiels ist diese recht dezent eingesetzt. Und gerade während der Ermittlungsarbeit gerät Ryo immer wieder an finstere Gesellen, (welche manchmal aber gar nicht so finster sind, wie es den Anschein gibt).
Solche Momente enden zumeist in virtuellen Prügeleien. Diese sind in bester Beat ´em´ Up-Manier gehalten. Mit einem wachsenden Portfolio von diversen Martial Arts-Techniken kann Ryo seine Gegner bezwingen. Die Mechanik dieser so genannten „Free Fights“ ist dem populären Virtua Fighter entlehnt. Entsprechend komplex und vielfältig sind die verschiedenen Schlag- Tritt- und Wurfkombinationen. Eine weitere Komponente, welche das Spiel prägt, sind die Quick Time Events. Während einer interaktiven Filmsequenz muss der Spieler kurzfristig eingeblendete Buttons drücken, damit Ryo beispielsweise Hindernissen ausweichen oder Gegnerangriffe blocken kann. Diese QTE’s sind in Shenmue vielfach enthalten. Übrigens ist Shenmue in dieser Hinsicht so etwas wie ein Pionierswerk, denn die QTEs fanden hier erstmals statt und finden heut Verwendung in vielen namhaften Produktionen (hier seien die jüngst erschienene QTE-Orgie Heavy Rain oder God of War 3 genannt). Neben den konventionellen QTE´s kommen im zweiten Teil noch die so genannten Freeze QTE’s zum Zuge. Gemäß dem Namen friert der Bildschirm kurz ein, und eine kurze Tastenabfolge muss schnell gedrückt werden. Sowohl die Zahl dieser perfekt getimten und hübsch ausschauenden Reaktionsspielchen als auch die Menge der Free Fights, teils sogar aus Ego-Perspektive, hat deutlich zugenommen. Spielerisch ist Shenmue also extrem abwechslungsreich.
Die grafische Präsentation dieses Spieles ist sicherlich im Zeitalter von High Definition nicht mehr ganz zeitgemäß aber unterm Strich immer noch hübsch anzusehen. Wenn Ryo durch die verschiedenen Viertel Hong Kongs oder respektive Kowloons streift, fühlt man sich wirklich in die chinesische Selbstverwaltungszone der 80er Jahre versetzt. Überall blinken kleine, aufwendige Details hervor, die unzähligen NPC´s haben alle für sich ein individuelles Erscheinungsbild und wirklich alle nicht spielbaren Charaktere sind synchronisiert. Besonders beeindruckend ist es, wenn sich viele Bewohner gleichzeitig auf dem Bildschirm tummeln. Das bringt zwar gelegentlich ein paar Slowdowns mit sich, ist aber durchaus zu verschmerzen. Ein weiteres kleines Manko dürfte sein, dass das Spiel mit Pop-Ups zu kämpfen hat. Es kann also schon mal vorkommen, dass Figuren einfach aus dem Nichts aufpoppen. Aber auch das ist nicht so der gravierende Fehler, und angesichts der fast schon antiken Hardware nicht weiter schlimm. Persönlich gefallen hat mir auch der dynamische Tag/Nacht-Wechsel, welcher die schönen Kulissen ebenso organisch wie greifbar macht.
Das Liberty City eines Gta 4 mag in heutigen Zeiten vielleicht recht eindrucksvoll ausschauen und vor allem in seinem Umfang gewaltig sein, aber die Spielwelt eines Shenmue sieht da deutlich authentischer aus, zumal es innerhalb der Welt einige Restriktionen gibt, die dem ganzen aber einen realistischen Touch geben. Auch akustisch gibt sich Shenmue 2 nichts.
Traditionell asiatische oder doch rockige Klänge. Ob zart-melancholisch oder bedrohlich wummernd. Die Klänge, Melodien und Stücke passen sich nahezu perfekt an die jeweilige Situation und Location an und unterstützten die dichte Atmosphäre in jeder Hinsicht. Die Dreamcast-Version kommt mit einer japanischen Sprachausgabe, wird in Englisch untertitelt. Die Einträge ins Notizbuch sind hingegen in Deutsch gehalten. Letzteres erscheint mir ein wenig absurd und sinnlos, da zugunsten des Verständnisses der Handlung zumindest Grundkenntnisse der Englischen Sprache unausweichlich sind. Die später erschienene Xbox-Fassung ist jedoch gänzlich in englischer Sprache gehalten. Die japanische Synchronisation find ich insofern befürwortenswert, als dass auch diese den fernöstlichen Flair bestens wiedergibt. Das ist auch ein Punkt, welchen ich am Erstling bemängele, der ausschließlich mit einer englischen Lokalisierung aufwartet.
Fazit: Shenmue 2 ist nicht weniger als ein Meisterwerk. Punkt. Yu Suzuki, der kreative Kopf hinter dem ganzen, setzt mit dem zweiten Teil da an, wo der Erstling aufhört. Man mag die Detailverliebtheit des ganzen wahnwitzig nennen. An jeder Ecke gibt es was zu entdecken. Und angefangen von der grafischen Pracht des virtuellen Hong Kongs, über die epische Geschichte hin zu einem famosen Ineinandergreifen verschiedenster Spielelemente macht dieses Spiel wirklich alles richtig und kommt der Bezeichnung „Perfektes Videospiel“ beängstigend nah. Detailverbesserungen wie ein flexibleres Speichersystem, eine Lebensanzeige bei Gegnern, oder die Warp-Funktion sind durchwegs sinnvoll eingefügt worden, ansonsten alles wie gehabt. Jetzt ist bloß noch zu hoffen, dass irgendwann doch noch ein dritter Teil erscheint. Shenmue wurde als Trilogie angedacht, und die Story endet mit einem fiesen Cliffhanger, der ohne einen dritten Teil einfach nicht tragbar ist. Ich wage dennoch zu hoffen, irgendwann ein neues Meisterwerk aus der Feder von Yu Suzuki auf der heimischen Konsole spielen zu können.
Facts:
Titel: Shenmue 2
Release: 23. November 2001
Plattform: Sega Dreamcast / Xbox (2003)
Genre: Action-Adventure
Entwickler: Sega AM2
Publisher: Sega/Microsoft
Website: Englischsprachige Shenmue Webpräsenz