Nach einem Ausflug in autobiographische Gefilde meldet sich Herr Bernemann mit seinem nunmehr zweiten Roman zurück. Nach seinem brachial-misanthropischen „Satt:Sauber:Sicher“ wirkt sein aktuelles literarisches Elaborat geradezu leise, bedächtig und anrührend. Attribute die man einem Bernemann sicherlich nicht ohne weiteres zutrauen würde, gefiel er sich doch bislang in der Rolle des lauten Rebells, des charismatischen Literaturpunks. Das Entwerfen exzessiv-bildmächtiger, wort und –wahnwitziger Gefühls(ausnahme)zustände hat er indes immer noch drauf. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive geschrieben, der Name des Protagonisten bleibt im Verborgenen. Bewusst, denn soll damit eine entsprechende Identifikationsfläche für den Leser geschaffen werden.
„Vergänglichkeit“ ist der Oberbegriff dieses Machwerkes, der über allem thront. Die obligatorische Sinnsuche angesichts der „Vergänglichkeit“, aber auch die Chance auf einen Neuanfang, die sich darin verbirgt, bilden die Eckpfeiler. Der Prozess des Älterwerdens und das Leben selbst werden kleinlichst seziert. Der Klappentext fasst das ganz vorzüglich zusammen:
„Dirk Bernemanns neuestes Werk über Menschen mit Vergangenheit, die erkennen, dass sie auch Menschen mit Zukunft sein könnten …
Und ich dachte: Ein Frühlingstag. Ja, ja, ja, ein Frühlingstag. Der Mai hat seine Mitte erreicht. Doch was bringt die Mitte eines Mais, wenn es so was wie Vergänglichkeit gibt, wenn man von der Mitte eines Mais schon das Ende eines Novembers erkennen kann?“
Der unbekannte Erzähler vegetiert vor sich hin, in einem durch und durch (spieß)bürgerlich-grauen Leben (haha, mal wieder!). Den Drive der Jugend verloren, fristet er sein Dasein in einem Job (als Buchhändler), der seinen inneren Bestrebungen aus diesem Leben auszubrechen nur beschränkt entgegenkommt. Abgesehen davon, darf er seiner Mutter, die in einem entsprechenden Pflegeheim untergebracht ist, regelmäßig beim Sterben zusehen, deren kognitive Leistungsfähigkeit angesichts einer weit fortgeschrittenen Alzheimer-Erkrankung zunehmend vom Verfall gezeichnet ist. Das Verhältnis zu seinem Elternhaus scheint ohnehin gestört. Die Trauer, die ihm inne wohnt, ist eher einem gewissen Pflichtbewusstsein zuzurechnen, als wirklicher Empathie. Gleiches gilt für seinen Vater, doch als dieser sich scheinbar neu verliebt, entwickelt sich doch noch so was wie eine zärtliche Bindung zwischen Vater und Sohn. Zwischenzeitlich baut der Ich-Erzähler eine innige Freundschaft zu seinem polygam veranlagten Künstler-Nachbarn Kai auf, die geprägt ist, von wechselseitigem Verständnis, von Wärme und Melancholie, aber auch vor Ehrfurcht. Über diesen lernt er ein Mädchen namens Caro kennen, mit welcher er, ob seiner bisherigen Bindungsunfähigkeit eine zaghafte Beziehung eingeht zwischen versoffenen Nächten, entlarvender Ehrlichkeit und einer plaudernden Klaus Kinski-Epiphanie.
Die Erzählung ist gleichsam einer Achterbahnfahrt. Ein ständiges Auf und Ab, wie es im echten Leben halt so ist. Ein Stimmungshoch – Eine Gefühlsexplosion – Das Leben ist unbarmherzig, man rutscht auch eben aus, oder in den Abgrund. Dazwischen die stupide Routine. Jeder wird irgendwie von dem launischen Wesen des menschlichen Lebens ein Lied singen können, ungeachtet von Herkunft, Religion oder sozialem Milieu. Bernemann schafft es vorzüglich, gerade jene Charakteristik einzufangen. Irgendwo gibt es eine Zäsur, in welchem sich der krass zum Ausdruck kommende Kultur- und Sozialpessismismus lichtet, wo der Protagonist tatsächlich erkennt, dass er ein „Mensch[en] mit Zukunft sein [kann]“. Nimmt man den ersten Teil des Buches für sich, so hätte man einen typischen Bernemann vorliegen. Zynisch, verbittert, amüsant aber mittlerweile ein bisschen öde, der zweite Teil hingegen macht „Vogelstimmen“ zu einem schönen, melancholischen und besonderen Werk in seinem bisherigen Oeuvre. Auch ein Bernemann wird eben älter und immer nur Wut ist wohl auf Dauer auch nicht gesund, was nicht heißen will, dass er bereit ist Kompromisse einzugehen. Vielmehr beleuchtet er das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und erstaunt ob der Vielschichtigkeit, die der Erzählung innewohnt. Das ist schön und bitter nötig.
Fazit: Ein wunderbarer Roman, den ich dem Herrn Bernemann so sicherlich nicht zugetraut hätte. Dass es nicht immer nötig ist, den groben Paukenschlag zu bemühen, beweist hier recht eindrucksvoll. Es sind vor allem die leisen, bedächtigen Momente, welche den Roman stützen. Und dennoch ist genügend Wut und Tristesse auf der anderen Seite vorhanden, um eben das hoffnungsvolle Element nicht allzu plakativ erscheinen zu lassen. Schließlich ist die Hoffnung das tragende Gerüst im Leben, das wirklich wesentliche. Vielleicht braucht es das Gefühl des „angepisst-seins“ und der grundlegenden „Weltunzufriedenheit“ um den Hoffnungsfunken überhaupt erst zu erkennen. Ich meine, dass der Roman dieses Gefühl sehr bewusst vermitteln kann. Nicht zuletzt für die grauen und zuweilen bitterkalten Novembertage spreche ich deshalb auch eine Leseempfehlung aus.
Medium: (Hardcover) Buch
Umfang: 282 Seiten
Verlag: UBooks
Erscheinungsdatum: 29.09.2010
Webpräsenz: dirkbernemann.de